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Wagen wir ein Gedankenspiel: Privatfernsehen ohne Unterbrechung, Websites ohne aufploppende Banner, Facebook ohne gesponserte Posts. Denn alle Unternehmen erkennen auf einmal: Werbung bringt nichts, die Menschen machen Marken – und sorgen für ihren Erfolg. Auf dieses Gedankenexperiment  kommt, wer das Buch „Die größte Agentur der Welt“ (Kursbuch edition) von Hermann Sottong liest. Der Gründer einer Beratungsagentur für Unternehmenskommunikation sieht schwarz für belästigende, klassische Werbung. Er fordert: Werbetreibende, setzt auf Post-Fake-Marketing! Ein Interview über die Dialogfähigkeit von Marken und die Nachfolge der Werbung, wie wir sie kennen.

Herr Sottong, Ihr Buch heißt „Die größte Agentur der Welt“. Wen genau meinen Sie mit der größten Agentur?

Damit meine ich uns alle in unserer Rolle als Verbraucher, die sich mit anderen Konsumenten darüber austauschen, was sie mit Produkten und Dienstleistungen erleben und wie sie Angebote, Unternehmen und Werbung bewerten.
Die zentrale These meines Buches ist, dass es dieser Austausch, der „Diskurs“ der Konsumenten ist, der die Entstehung von Marken, die Verknüpfung von Produkten mit Inhalten und ihre Aufladung mit Bedeutungen wesentlich stärker und nachhaltiger zustande bringt, als es die milliardenschweren Aktivitäten der Werbeagenturen und Marketingprofis je konnten und können werden. Kund*innen machen Marken und Konsumenten lassen sie auch wieder verschwinden. Die neuen elektronischen Medien verstärken dieses Phänomen und bieten für den Diskurs eine Fülle neuer Optionen. Das macht die Entwicklung momentan so spannend.

Das heißt, Sie konstatieren eine Machtverschiebung hin zur Masse? Ist die Masse dumm oder klug?

There is no such thing as „swarm intelligence“: Fragen Sie mal einen Schleppnetzfischer. Mir geht es auch nicht um eine aus Individuen bestehende „Masse“ im Sinne von Le Bon oder Canetti: Mir geht es um eine bestimmte Menge an Kommunikationen, die dank digitaler Vernetzung nicht nur ständig wächst, sondern auch neue Optionen der Beobachtung und der Differenzierung schafft. Diese Kommunikationen sind Teil der „Gespräche“, die mit den Worten des Cluetrain-Manifestes unsere „Märkte“ konstituieren. Wenn viele Menschen sich kontinuierlich und unter Einhaltung bestimmter Konventionen zu einem bestimmten Gegenstandsbereich austauschen, wächst ein Diskurs, der seine Themen immer weiter konturiert, variiert und seine Redegegenstände mit Bedeutungen versieht. Verbraucherdiskurse sind dabei nicht nur Gespräche über bestimmte Konsumgüter und Marken, sondern eben auch Verhandlungen darüber, was beispielsweise relevante „Qualitäten“ von Produkten sind bis hin zu der Frage, welche Aussagen man durch ein bestimmtes Konsumverhalten oder Kaufentscheidungen macht. Das erklärt auch, warum manche Marken sich trotz hoher Investitionen in klassische Werbung nicht mehr halten können und untergehen.

Und wie sieht es mit der Machtverschiebung aus?

Wenn Sie nach einer „Machtverschiebung“ fragen, setzen Sie damit stillschweigend voraus, dass vorher mehr Einfluss auf Seiten von Werbung, Reklame, Marketing oder insgesamt von Individuen in den Schaltzentralen von „Massenmedien“ lag als das heute der Fall ist. Ich versuche in „Die größte Agentur der Welt“ zu zeigen, dass der ganze Prozess eine noch viel größere Dimension hat als den einer bloßen Verschiebung. Wir erleben gerade einen Wandel, in der die Verhältnisse nicht einfach nur auf der bisher gültigen Skala verschoben werden. Stattdessen werden die Karten neu gemischt und vermehrt und die Spieler erhalten damit die Möglichkeit, ein völlig neues Spiel zu erfinden. Das führt zu der kuriosen und unübersichtlichen Situation, dass einige mit ihren neuen Karten das alte Spiel stur weiterspielen wollen, während andere gerade dabei sind auszuprobieren, wie man mit den neuen Karten auch andere Spiele spielen könnte, wobei sich die Regeln erst nach und nach herausmendeln.
Diejenigen, die am stursten an den alten Spielregeln festhalten, sind die angestammten Vertreter von Werbung, Marketing, Medien. Sie haben zwar mit dem Internet und Social Media neue Karten bekommen, mit denen sie aber das alte Spiel weiterspielen wollen: „Manipulation“ durch hyperbolische Rhetorik, Fake, Überrumpelung, Sperrfeuer.

Sie sprechen dagegen von dem Begriff des „Post-Fake-Marketing“, den Werbetreibende heute verinnerlichen müssen. Reguläre Werbung bewerten Sie also als Fake?

„Fake“ hat ja immer etwas mit der Vorspiegelung falscher Tatsachen zu tun. Das reicht von plumpen Verknüpfungen banaler Produkte mit transzendenten Werten bis hin zur Überbetonung bestimmter Merkmale bei gleichzeitigem Verschweigen damit verknüpfter negativer Eigenschaften. Ich habe in meinem Buch deutlich differenziert und die Skala von Optionen aufgezeigt, derer sich Werbung bedient, um Angebote mit mehr oder weniger realistischen Versprechungen zu koppeln. Es gibt dabei auch Werbeäußerungen, die eher informativ und relativ sachlich – und dabei erfolgreich sind.

Und doch gibt es auch Werbung, die nur aus Superlativen zu bestehen scheint.

Wir haben interessanterweise in unserer Kultur eine stille Übereinkunft entwickelt, nach der man Werbeäußerungen nicht wörtlich nehmen sollte, sofern sie sich nicht auf objektiv messbare Produktmerkmale beziehen. Bietet man mir ein Auto mit der Aussage an, es habe 400 PS, und der TÜV stellt fest, dass es nur 60 sind, kann ich vor Gericht ziehen. Wenn man mir dasselbe Modell als „heißen Renner“ anpreist, und ich darauf hereinfalle, sollte ich das lieber nicht an die große Glocke hängen, wenn ich nicht als hoffnungslos naiv gelten will. Ein immer noch viel zu großer Teil der Werbung tut aber nach wie vor noch genau das: Sie produziert Fakes und tut so, als ob wir naive Deppen wären. Angesichts des Rezeptionsverhaltens der Verbraucher, die Werbung auf jede mögliche Art abblocken, ignorieren, ironisieren, ist das Schneckentempo, mit dem sich der Umgang der Werbung mit ihren Inhalten und mit den Konsumenten verändert, wirklich erstaunlich.

Welche Kriterien sind es, die Werbung heute verändern?

Man muss zwei Ebenen klar unterscheiden: Auf der einen Ebene geht es um Inhalte und darum, was uns Werbung mit welchen rhetorischen Mitteln eigentlich mitzuteilen versucht. Da ändert sich im Prinzip wenig. Auf der anderen Ebene geht es um die mediale Übermittlung dieses „Contents“, also um die Kanäle, Frequenzen, Orte und Zeitpunkte solcher Äußerungen. Dass dahin die Energie der Werbetreibenden fließt, lässt sich im Alltag unschwer erkennen: Man versucht Sie mit allen Mitteln zu jeder Zeit an jedem Ort auf jedem Kanal zu erwischen, um Ihnen nach wie vor den nur allzu vertrauten Mumpitz von besser, geiler, neuer, billiger, bunter entgegenzuschreien. Offenbar kommt in der Werbung kein Mensch darauf, Ihnen mal wirklich zuzuhören um dann ein Gespräch zu beginnen, das auch für Sie interessant ist. Stattdessen werden Sie beobachtet, ausspioniert, ausgewertet und zuweilen telefonisch verhört, wenn Sie gerade müde aus der Arbeit kommen oder am Wochenende ein Buch lesen wollen – nur um dann Ihre privaten Kommunikationskanäle mit schlüpfrigen Botschaften zu vermüllen. Mit anderen Worten: der aktuelle Trend der Werbung ist der zum Stalking. Wenn eine Privatperson dasselbe tut, macht sie sich strafbar.
Da sich auf der kommunikativen Seite – Dialogfähigkeit und Gestaltung interessanter Mitteilungen – wenig entwickelt und auf der Technikseite – Abhören und zielgerichtet Senden – nahezu alles, ist klar, wohin die Reise erst einmal gehen wird: Die Werbeagenturen entwickeln ihre kommunikative Kompetenz nicht und machen sich damit mittelfristig überflüssig. Sie mutieren jetzt schon zu Inkassounternehmen für Google, Facebook und andere und werden von denen in absehbarer Zeit durch KI ersetzt werden.

Ihrer Logik zufolge lassen sich Marken nur besitzen, nicht steuern. Wozu dann überhaupt noch Werbung bei so viel Kontingenz?

„Werbung“, wie wir sie kennen, wird mittelfristig nahezu verschwinden. Die Nachfolge wird KI gestützte Stalking-Kommunikation antreten. Es wird aber parallel dazu auch neue, kundenorientierte Formen des „Marketing“ geben. Unternehmen und Agenturen, die ernsthaft mit Kund*innen und Konsumenten ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben, werden nachhaltig erfolgreich sein. Angesichts einer komplexen Sozial- und Konsumentenstruktur sieht das schwieriger aus, als es in Wirklichkeit ist. Es gibt dafür eine ganze Reihe erprobter Verfahren und entsprechenden Background aus den Sozialwissenschaften, gerade aus der qualitativen Forschung.
Jenseits davon wird aber der Diskurs der Konsumenten die wichtigste Instanz zur Semantisierung von Marken und Angeboten bleiben: Die größte Agentur der Welt ist eine, die nie pleitegehen wird.

Nehmen wir noch konkrete Beispiele. Wie sieht gelungenes Post-Fake-Marketing aus? Haben Sie ein Paradebeispiel?

Ich habe in meinem Buch eingehender die schwedische Firma Fjällräven und ihre Marektingstrategie behandelt. Das Unternehmen erfüllt eine ganze Reihe der dort beschriebenen Voraussetzungen, die für Post-Fake-Marketing relevant sind: Eine klare Identität, eine solide, handhabbare Wachstumsstrategie, Erfahrung und erprobte Werkzeuge im intensiven Dialog mit Kund*innen, erkennbare Werte und trivialer Weise vernünftige Produkte. Die Marke hat hinreichend interessantes und authentisches Material, um etwas von sich zu erzählen. Sie hat ein klares Versprechen und muss nicht mit Versprechungen operieren. Sie operiert zurückhaltend mit klassischer Werbung, hat dafür aber einen guten Stand im Internet, sozialen Medien, Foren. Kund*innen identifizieren sich mit der Marke und lassen andere das gerne wissen. Mit anderen Worten: Die Marke ist von der „größten Agentur“ gut vertreten. Ein ähnliches Muster finden Sie hierzulande etwa bei dm drogeriemärkte wieder.

Die Kursbuch Kulturstiftung, in der das Buch von Hermann Sottong erschien, ist mit Murmann Publishers assoziiert.

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