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Martin Kornberger diagnostiziert eine Krise im heutigen politischen und wirtschaftlichen Denken. Unternehmen, Organisationen und Staaten sind überfordert, weil sich die Spielregeln minütlich ändern können und damit das tradierte strategische Denken an deutliche Grenzen stößt. Eine disruptive Innovation reicht aus, um jahrelang erfolgreiche Unternehmen aus der Bahn zu werfen. Genauso einfach gelang es 2020 einer unerwarteten Pandemie, die Gesellschaft in kürzester Zeit aus den Angeln zu heben. Und auch in der Ukraine sind die sorgfältig ausgelegten Taktiken des Westens für mit der Invasion der russischen Armee obsolet geworden.

Wie wir Strategie in diesen Zeiten radikaler Unsicherheit trotzdem wieder wirksam machen können, erklärt Professor Martin Kornberger im Interview.

In Ihrem Buch »Systemaufbruch« räumen Sie mit einem linearen Strategieverständnis auf. Warum?

Strategie geht von der Planbarkeit der Zukunft aus: auf den Plan folgen die Handlungen, die zur Zielerreichung führen. Nun funktioniert diese lineare Kette, solange die Umwelt berechenbar und die Zukunft vorhersehbar ist. Dies ist allerdings immer weniger der Fall. Daher müssen wir dringend über ein neues Strategieverständnis nachdenken.

Was haben der Afghanistan-Einsatz, die Bekämpfung der COVID-Pandemie und die Geschichte von BlackBerry gemeinsam?

Diese drei Beispiele – die leider durch viele weitere ergänzt werden könnten – illustrieren, wie in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft das herkömmliche Strategieverständnis auf seine Grenzen stößt und schließlich an ihnen zerbricht. In jedem der Beispiele wird viel Strategie gemacht – aber in jedem der Beispiele zeigt sich, dass Strategie Teil des Problems, und nicht der Lösung darstellt. Darin liegt die Motivation für den Systemaufbruch.   

Was genau meinen Sie, wenn Sie von einem »Systemaufbruch« sprechen?

Systemaufbruch impliziert, die Zukunft anders zu gestalten: einen Nordstern setzen, der Sinn und Zweck stiftet, gleichzeitig vor Ort aber viel Handlungsspielraum für lokales, autonomes und agiles Handeln lässt. Egal, wo ich bin, der Nordstern gibt mir Orientierung im Denken und Haltung im Handeln, ohne sich der Illusion der Implementierbarkeit zu verschrieben. Vielmehr ist das Credo: maximale kollektive Ausrichtung bei minimaler lokaler Kontrolle. Der Netflix CEO nennt das das Prinzip des “loosely coupled, highly aligned”.      

Foto Martin Kornberger

Martin Kornberger ist Philosoph, Managementprofessor und internationaler Bestsellerautor. (Foto: Oskar Kornberger)

Eine gemeinsam geteilte Haltung zu finden ist allerdings häufig nicht einfach. Wie kommen wir in einer fragmentierten Gesellschaft zu der von Ihnen zitierten “maximalen kollektiven Ausrichtung”?

Normalerweise versucht man Integration durch Zielvereinbarungen zu erzielen. Im Management heißt das Management by Objectives. Doch Ziele verändern sich – man denke nur an die Pandemie, in deren Verlauf sich die Ziele (gemessen an allen möglichen Kennzahlen) häufig verschoben haben. Stattdessen schlage ich vor, sich an einem gemeinsamen Nordstern zu orientieren. Der Nordstern sagt nicht, wohin die Reise gehen soll, aber er erlaubt Akteuren in unterschiedlichsten Ausgangslagen, sich zu orientieren und ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der preußische Militärstratege Carl von Clausewitz?

Als gelernter Philosoph ist Neugierde eine Art Berufskrankheit. Clausewitz macht neugierig. Er lebte zu einer Zeit, in der zuerst die Französische Revolution und dann Napoleon Schockwellen durch die Welt sandten. Heute würde man den Begriff der Disruption verwenden, um die Zeit zu beschreiben – das Neue ist also gar nicht so neu, wie wir glauben. In diesem Kontext verabschiedet sich Clausewitz von der Idee eines vorab gefassten Planes und dessen Implementierung. Stattdessen hat er um eine alternative Idee von Strategie gerungen, die kollektive Orientierung und individuelle Autonomie zusammendenkt. Sein Fragment gebliebenes Buch ist faszinierendes Zeugnis seiner Suche – unserer Suche.            

Was genau können wir aus seinem Hauptwerk „Vom Kriege“ lernen?

Clausewitz erlebte vor über 200 Jahren in aller Intensität, was wir als Unikum unserer Zeit missverstehen: Disruption. Das alte Strategieverständnis wonach Strategie ein Plan sei, der die Zukunft vorwegnehmen würde, wurde von Napoleons Kanonen in Stücke geschossen. Daher musste sich Clausewitz hinsetzen und nachdenken, wie man angesichts radikaler Unsicherheit strategisch Denken und Handeln kann. Diese Fragestellung, vielleicht mehr als die Antworten, die er ihr abrang, machen ihn so aktuell.      

In Ihrem Buch schreiben Sie: „Die Tür zur Zukunft geht nach Innen auf.“ Was meinen Sie damit?

Wir sind so zukunftsversessen, dass wir Originalität oftmals mit Ignoranz verwechseln. Disruption ist ein gutes Beispiel: nur weil wir unsere Geschichte vergessen haben, glauben wir, in einer zutiefst disruptiven Zeit zu leben. Darum das Bonmot, wonach die Tür zur Zukunft nach Innen aufgeht: man muss einen Schritt zurück in die Vergangenheit tun, um nach vorn gehen zu können.

Welchen Ratschlag würden Sie einer Führungskraft mitgeben, die in einem Unternehmen mit Strategieentwicklung befasst ist?

Identifizieren Sie Ihren Nordstern. Stellen Sie sicher, dass er hell am Firmament leuchtet. Wenn der Nordstern für alle sichtbar ist, schafft er gemeinsame Orientierung und Haltung. Belassen Sie taktische Entscheidungen dort, wo Sie lokal auftreten. Somit können Sie mehr Entscheidungen dezentralisieren und die Agilität der Organisation steigern, ohne die kollektive Ausrichtung zu verlieren.      

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