Gerald Hensel war es, der im April 2017 den Verein Fearless Democracy e.V. gemeinsam mit einigen Freunden gegründet hat. Das Ziel: Hass und Hetze, gerade online, entgegentreten und effektive Gegenstrategien entwerfen. Denn wie sich deren Wucht anfühlen kann, hat Gerald Hensel selbst erlebt. Er wollte Marken- und Mediaverantwortliche darauf hinwiesen, dass ihre Anzeigen auf fragwürdigen Webseiten ausgespielt wurden. User konnten dies unter dem Hashtag #KeinGeldfürRechts verfolgen. Es gab dafür viel Lob, aber auch viele, denen diese Einmischung missfiel. Der Hatestorm traf ihn selbst; Hensel sagt, er habe neben vielen tausend Anfeindungen mehr als drei Dutzend Morddrohungen erhalten – und gab deshalb sogar seinen Job bei einer Werbeagentur auf. Er wollte darauf reagieren, gründete den Verein. Heute, anderthalb Jahre später, sind Hass und Hetze mehr denn je ein Bestandteil von sozialen Netzwerken.
In unserem Interview spricht Gerald Hensel über Angst in Deutschland, warum es eine Bildungsoffensive Ü40 braucht und wie es mit dem Verein Fearless Democracy e.V. weitergehen soll.
Herr Hensel, werden wir in Deutschland von der Angst regiert?
Wir sind auf dem besten Wege dazu. Unsere Grundthese als Verein ist, dass die sozialen Medien einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die demokratische Gemeinschaft zu verängstigen. Ist doch ironisch: Blicken wir zurück, stellen wir fest, dass die Welt in der Vergangenheit immer gefährlicher als heute war. Die Menschen lebten kürzer, es gab mehr Kriege, Hunger und Katastrophen. Wir leben heute länger, sicherer. Und trotz dieser ungemeinen Stabilität gibt es die Wahrnehmung, dass wir in einer äußerst instabilen Zeit leben. Das liegt unseres Erachtens ganz stark an der Unmittelbarkeit der sozialen Medien und dem Fehlen von einordnenden Stimmen, die es durch die klassischen Medien vor Jahren noch gab.
Populisten, vor allem jene, die online agieren, sagen häufig, dass sie das Sprachrohr für eine unzufriedene Masse sind. Sie stellen sich dem mit Fearless Democracy entgegen.
Was gerade passiert, widerspricht meinem tiefsten inneren Bestreben, wie ich diese Welt sich entwickeln sehen möchte. Das ist ein ganz simpler Punkt. Ich sehe die Anfänge eines neuen Faschismus. Den möchte ich bekämpfen helfen, solange es noch geht. Das geht meinen Mitstreitern ähnlich.
Sprechen wir über ein konkretes Tool der Meinungsmache, die Troll-Netzwerke. Sie fluten zu bestimmten Themen die Timelines, um eine konkrete Lesart und Sichtweise zu pushen. Ist es möglich vorherzusehen, wie diese bei zukünftigen kritischen Themen, etwa Wahlen, agieren werden?
Nein, denn jeden Tag ändert sich diese neue Medienwelt. Man konnte früher mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit sagen, welche Themen die großen Leitmedien bewegen. Die tonangebenden Akteure heute in der digitalen Echtzeit sind vielgestaltig und haben völlig unterschiedliche Strukturen. Da ist Troll-Netzwerk nicht gleich Troll-Netzwerk.
Und wie bereitet man die Bevölkerung, gerade junge Menschen, auf diese neuen Akteure vor?
Das wichtige ist, die Existenz solcher Troll-Netzwerke überhaupt ins Bewusstsein der Bevölkerung zu holen. Und da sehe ich nicht unbedingt Aufholbedarf bei den Jugendlichen, denn die verstehen so etwas meist eher als etwa ihre Lehrer, die aus einer völlig anderen Zeit kommen. Vielmehr brauchen wir eine digitale Bildungsoffensive Ü40, nicht U40. Ohne die Ü40 Offensive – nicht nur für Lehrer, sondern auch für Politiker, Polizisten, Staatsanwälte, all diese Leute, die unseren Staat lenken – wird’s auch keine für U40 geben.
Diese digitale Bildung und die Vorbereitung auf einen Umgang mit Trollen und politischen Radikalen wird ein kontinuierlicher Prozess sein, auf den auch die Hassgruppen mit einer Gegenstrategie reagieren werden, oder?
Es gibt nicht nur die gute Gesellschaft und die bösen Trolle. Es gibt ein gegenseitiges Heranwachsen des Hasses und der Abneigung. Dieser alte Satz von Michael Jackson „I‘m starting with the man in the mirror“, der ist schon gar nicht so falsch. Digitale Medien haben grundsätzlich dazu geführt, dass Hass ansteigt, weil ich den Anderen nicht mehr sehe.
Wenn ich Trolle persönlich getroffen habe, dann sind das oft ganz normale Menschen. Menschen, die oft nicht verstehen, dass sie selbst Hater sind. Aber auch Menschen, die sich entschuldigen und die Schiss haben, wenn sie ertappt wurden. Das macht das Handeln nicht besser. Aber man merkt, dass das Handy, das man dazwischen hat, entmenschlicht. Man glaubt nicht mehr, dass man es mit Menschen zu tun hat. Man glaubt, dass man nicht gesehen wird.
Wir werden das Problem, das den Hass begründet, nicht mehr grundsätzlich klären. Je mehr Technologie in der Welt sein wird, desto mehr „gute“ Verbindungen entstehen – so, wie wenn ich auf Facebook mit alten Freunden in Kontakt bleibe. Das Gegenteil entsteht aber auch: Hass. Und es entstehen die, die aus Hass politisches und materielles Kapital schlagen: mit Abo-Verkäufen, Werbeeinnahmen, politischer Macht und dergleichen mehr. Es existiert eine neue Hass-Industrie im Netz – und die läuft blendend. Auf Facebook, auf Twitter, Gab.ai, Gamerservern und und und. Nicht nur bei Rechtsradikalen, aber derzeit besonders gut dort. Das, was früher als Skinhead mit Baseballschläger und weißen Schnürsenkeln klar als Nazi erkennbar war, ist heute der Biedermann hinter seinem Laptop in der Doppelhaushälfte – eine Gegenöffentlichkeit, die nicht viel anders aussieht als die Gesellschaft, die sie bekämpft.
Wie unterstützen Sie mit Fearless Democracy denn Personen und Institutionen?
Wir beraten häufig zum Thema Hass, etwa in der Medienbranche. Das kann ein Journalist sein, der einen Artikel geschrieben hat, der ihm plötzlich um die Ohren fliegt. Wir sind außerdem oft mit Politikern im Austausch, ob aus dem Bundestag oder der EU. Generell kümmern wir uns vor allem um Opfer von etwas, das ich digitalen Massenhass nenne. Im Kern unseres Vereins steckt eine Bildungsaufgabe. Und da ist viel zu tun – persönlich wie institutionell.
Nun läuft ihre Arbeit sicher größtenteils online ab…
Nein, der Austausch ist in erster Linie analog. Die Onlinewelt ist nur eine Projektionsfläche für uns. Ich persönlich nehme oft einfach den Telefonhörer in die Hand und spreche mit jemandem, der gerade durchs Internet gemobbt wird und versuche ihm zu helfen. Oft reden wir aber auch in Institutionen, auf Kongressen und in der Presse über das Thema. Warum auch nicht? Ich habe Hass im großen Maßstab wie einige meiner Mitstreiter bereits erlebt. Alle anderen sind da nur Theoretiker.
Bevor Sie es sagen: Wir wissen, dass das noch kein nachhaltiges Konzept ist. Man kann als kleiner Verein nicht ständig Leute anrufen, um ihnen zu helfen. Man muss einen größeren Blick auf die Geschehnisse werfen und vor allen Dingen brauchen wir mehr Masse und mehr Beratungsmöglichkeiten – daran arbeiten wir gerade.
Wie sieht die Zukunft von Fearless Democracy aus? Was sind ihre nächsten Projekte?
Unsere Plattform HateAid bauen wir in den nächsten Monaten und Jahren zu Deutschlands größter und bisher einziger Plattform für Menschen aus, die digitalen Massenhass erleben. Erste Komponenten: Auf unserem Portal HateAid unterstützen wir ab November die Opfer von Hassattacken mit hilfreichen Guides und Ratschlägen. Wir werden in diesem Kontext auch eine Videoreihe über Betroffene von digitalem Massenhass herausbringen, die das Thema Hass im Netz noch einmal neu beleuchtet und die sich vor allem mit Selbsthilfe für Betroffene befassen soll. Zusätzlich wollen wir für die interessierte Öffentlichkeit beleuchten helfen, was dieses Phänomen eigentlich ist.
Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres wollen wir im Rahmen von HateAid einen komplett neuen Ansatz an den Markt bekommen, der, glaube ich, einiges verändern könnte. Aber, wie gesagt, da arbeiten wir gerade dran.
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