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Ein Sachbuch sollte nicht mehr als 280 Seiten haben. Das ist eine zugegebenermaßen sehr pauschale Bemerkung. Ich meine es aber ernst – wenn auch mit einem Augenzwinkern, da wir in den letzten zwei Jahrzehnten diese Marke mehr als einmal gerissen haben. Mal konnten wir unsere Autor*innen nicht zur Kürze bewegen und das Lektorat wäre einer Waldrodung gleichgekommen, mal fanden wir, dass die Argumente, Analysen und Interpretationen sich in derart komplexen Sachverhalten bewegten, dass Kürze zu Lasten der Qualität ginge. Dabei halte ich es im Grunde mit Goethe: es ist sehr viel schwerer, sich kurz zu fassen und es dauert länger, die eigenen Gedanken auf den Punkt zu bringen, als in Ausschweifungen zu verfallen.

Leseempfehlung und die Lebenszeit

Bei Leseempfehlungen erhält diese Problematik eine geradezu existenzielle Komponente. Wenn man einer anderen Person ein Buch empfiehlt, egal ob auf einer Abendgesellschaft (»Den neuen XY müssen Sie lesen!«) oder wie hier im professionellen Kontext: als Buchempfehlender muss ich mir des Risikos bewusst sein, durch meine Leseempfehlung wertvolle Lebenszeit zu stehlen. Man stelle sich vor, die Person liest das empfohlene Buch nur aus Höflichkeit durch, um bei der nächsten Begegnung einen kompetenten Kommentar abgeben zu können. Ein Buch abzubrechen, ist schon kein ganz einfacher Akt, ein empfohlenes Buch abzubrechen, ist noch brenzliger, da der Abbruch bei der empfehlenden Person eventuell eine Enttäuschung, zumindest aber eine Irritation auslösen könnte. Wie – meine Empfehlung ist es dir nicht wert, dafür Zeit aufzubringen?

Riskante Leseempfehlung

Der Philosoph Odo Marquard hat diese Problematik einst wunderbar zusammengefasst, als er in Anbetracht der dicken Bände seines Kollegen Hans Blumenberg die Dichotomie von Lebenszeit und Lesezeit spielerisch in Anschlag brachte. Daran muss ich heute denken, wenn ich Ihnen das über 1000 Seiten starke Werk von Peter Frankopan als Sommerlektüre empfehle: Zwischen Erde und Himmel. Klima – Eine Menschheitsgeschichte (Rowohlt Berlin Verlag, 2023). Die Lektüre ist wie eine lange Wanderung, die ich auch gerade erst angetreten habe. Meine Empfehlung ist also sehr riskant, da ich das Buch selbst noch nicht zu Ende gelesen habe, ergo selbst noch kein Urteil über die Lese- bzw. Lebenszeit-Problematik fällen kann. Warum sollten wir also für diese eigentlich unzumutbare Länge so viel Lebenszeit aufwenden? Der Autor ist Professor für Globalgeschichte in Oxford. Es scheint ein Schicksal seiner Zunft zu sein, lange Bücher schreiben zu müssen, denn auch andere globalgeschichtliche Werke nehmen solch epochale Ausmaße an. Globale Themen geschichtlich anzugehen, ist mit der leserfreundlichen Würze der Kürze, kaum vereinbar. Wenn wir dicke Bretter bohren wollen, müssen wir also Lebenszeit in Lesezeit investieren.

Warum »Zwischen Himmel und Erde«?

Mein Motiv, mich diesen Sommer mit Frankopans Werk zu beschäftigen, ist thematischer und methodischer Natur. Inhaltlich interessiert mich, wie klimatische Veränderungen, natürliche und ökologische Prozesse die Lebensbedingungen des Menschen beeinflusst haben. Und aus methodischer Perspektive reizt mich die Form der Auseinandersetzung, die historische Methode. Die Klimakrise der Gegenwart aus der Menschheitsgeschichte heraus zu betrachten, ist eine Perspektive, von der ich mir neue Erkenntnisse für den Umgang mit eben dieser Krise erwarte. Deshalb ist „Zwischen Himmel und Erde“ meine Leseempfehlung für diesen Sommer – und sollten Sie sich wider Erwarten doch nicht durch alle 1.000 Seiten arbeiten können, bin ich Ihnen garantiert nicht böse.

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