… Simona Stoytchkova. In ihrem Buch »Die aus dem Osten« plädiert sie für ein Land, in dem „Ost“ und „West“ keine Rolle mehr spielen.
Ihre wertschätzende, klare und lösungsorientierte Art steckt an. Erfahren Sie im Interview mehr über den Werdegang unserer Autorin, ihre Erfahrungen als Ostdeutsche in den Vorstandsetagen deutscher Unternehmen und ihre ganz eigenen Learnings aus dem Sozialismus und der Jugend als Wendekind.
Ostdeutsche sind in den Vorstandsetagen deutscher Unternehmen nach wie vor eine Seltenheit. Woran liegt das?
Simona Stoytchkova: In Deutschland hat sich eine „Rekrutierungsschablone“ für Führungskräfte herausgebildet – und die hat sich in den letzten Jahren leider kaum verändert. Das hat aus meiner Sicht drei Gründe: Erstens wurden nach der Wende viele Führungspositionen im Osten mit Personal aus dem Westen besetzt – was zu einem Mangel an ostdeutschen Vorbildern und Netzwerken in der Wirtschaftselite führte. Zweitens sind in Ostdeutschland kaum Konzernzentralen angesiedelt, was die Aufstiegschancen vor Ort begrenzt. Drittens – und das habe ich in meiner Karriere auch immer wieder erfahren müssen – gibt es oft eine subtile Voreingenommenheit gegenüber ostdeutschen Bewerbern. Und deshalb fallen sie häufig durch die eingangs erwähnte Rekrutierungsschablone.
Mit welchen Vorurteilen hatten Sie zu kämpfen?
Simona Stoytchkova: Ich habe in meiner Karriere 19 Jahre im Ausland gearbeitet. Und während ich in London „the German“ oder in Paris „l´Allemande“ genannt wurde, war ich nach meiner Rückkehr nach Deutschland wie gehabt »Die aus dem Osten«. Das hat mich über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sehr überrascht. Das alte Stigma „ostdeutsche Herkunft“ ist also lebendig wie eh und je. Anfangs machten mich diese Erfahrungen noch wütend, aber allmählich wurde mir klar, dass die meisten dieser „kompetenten“ Kritiker den Osten überhaupt nicht kannten. Ich nehme es also sportlich – und lade mit meinem Buch deshalb in meine Erfahrungswelt ein.
Was haben Sie während Ihrer Jugend im Sozialismus gelernt, dass nun für Sie als Top-Managerin in der globalen Finanzbranche und Ihr Verständnis von Leadership relevant ist?
Simona Stoytchkova:In meiner Jugend war das „Wir“ überall präsent – ob in der Schule oder der Arbeitsstätte, das Kollektiv stand über allem. Jeglicher Individualismus, sogar ansatzweises Hinterfragen des Systems oder gar Kritik daran waren unerwünscht. Mit der Wende gesellte sich zu diesem Kollektivismus der westlich-liberale Individualismus mit unendlichen Möglichkeiten zur freien Persönlichkeitsentfaltung und ich lernte die Vorteile des freien Marktes zu schätzen. Dieses ständige Ausbalancieren vom „Wir“ und dem „Ich“ ist der Kern meines Verständnisses von Führung. Dabei helfen mir ein hohes Maß an Resilienz, Anpassungsfähigkeit und Empathie – auch infolge der Transformationserfahrung der Wende.
Sie sind ein sogenanntes Wendekind. Was bedeutet das? Und welche Herausforderungen stellten sich Ihnen nach der Wende?
Simona Stoytchkova:Wendekinder erlebten den Mauerfall und die Wiedervereinigung in einer der entschiedensten Phasen des Lebens: Der Jugend. Und diese einzigartige Erfahrung prägte mich nachhaltig. Nach der Wende stand ich wie alle Wendekinder vor erheblichen Herausforderungen: Das gesamte Gesellschaftssystem änderte sich praktisch über Nacht. Wir mussten uns in einem völlig neuen Bildungs- und Wirtschaftssystem zurechtfinden. Viele Werte und Überzeugungen, die uns beigebracht wurden, verloren plötzlich an Bedeutung. Gleichzeitig eröffneten sich neue Möglichkeiten, die mit ebenso vielen Unsicherheiten verbunden waren. Mein Vater verlor seinen Arbeitsplatz, was zusätzlich Existenzängste in der Familie verursachte. Ich musste lernen, für mich einen Platz in der westlichen Konsumgesellschaft zu finden. Und: Meine Eltern dabei unterstützen, das für sich selbst zu tun.
Deutschland scheint gespalten – auch zwischen sogenannten „alten“ und „neuen“ Bundesländern. Wie bringen wir „Ost“ und „West“ wieder näher zusammen?
Simona Stoytchkova: Wir müssen zunächst die unterschiedlichen Erfahrungen und Perspektiven beider Seiten hören und anerkennen. Dabei geht es vor allem um Wertschätzung: Mehrere Generationen von Ostdeutschen haben sich quasi über Nacht in einem neuen System zurechtfinden müssen – und das zum größten Teil sehr gut gemeistert. Wenn wir diese Transformationskompetenz anerkennen und für uns als Gesellschaft in einer immer unsicheren Welt nutzen, ist der erste Schritt getan. Parallel dazu müssen wir Vorurteile abbauen – und zwar in Ost und West. Dass wir über 30 Jahre nach der Wende immer noch über „Besserwessis“ und „Meckerossis“ reden, ist eigentlich ein bitteres Fazit. Und hier sind alle gefragt: Medien, die nicht mehr in alten Kategorien denken und berichten. Unternehmen, die ihre Personal- und Standortentscheidungen besser überdenken müssen. Und jeder Einzelne, der an der Vision eines gemeinsam-vereinten Deutschlands mitarbeiten und nicht mehr in Kategorien wie „Ost“ und „West“ denken will.
Wer sollte Ihr Buch in jedem Fall lesen?
Simona Stoytchkova: Es ist ein Buch für all diejenigen, die ähnliche Transformationserfahrungen gemacht haben wie ich – also Wendekinder und deren Kinder. Und es ist ein Buch für all diejenigen, die in der Wirtschaft als Führungskräfte positive Zukunftsnarrative mitgestalten wollen. Meine Hoffnung ist aber auch, dass es ein Buch für all diejenigen in Deutschland ist, die sich nach über 30 Jahren Einheit nicht mehr mit dem scheinbaren Gegensatz zwischen Ost und West zufriedengeben wollen, sondern auf der Suche nach einer gemeinsamen Vision für Deutschland sind.