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23,5 Prozent in Brandenburg, 27,5 Prozent in Sachsen – einer der Gründe für die Wahlerfolge der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland ist Studien zufolge ein subjektives Gefühl, benachteiligt zu sein. So gaben 70 Prozent der AfD-Wähler in Sachsen an, dass die „Ostdeutschen wie Bürger zweiter Klasse“ behandelt würden. Wenn es um Erklärungen für diese gefühlte Ungleichheit geht, fällt nicht selten der Begriff Treuhand, auch bei den Rechtspopulisten. Der AfD-Landesvorsitzende in Thüringen, Björn Höcke, wird zitiert mit den Worten: „Die Verelendung und Heimatzerstörung hier bei uns hat einen Namen. Dieser Name lautet Treuhand.“ Treuhand, damit meint Höcke die Treuhandanstalt, die nach dem Zusammenbruch der DDR die sogenannten Volkseigenen Betriebe privatisieren oder abwickeln sollte. Eine Aufgabe, die bis heute für Zerrbilder der Anstalt sorgt, so Norbert F. Pötzl. Für sein neues Buch „Der Treuhand-Komplex“ (2019, kursbuch.edition) hat der ehemalige Spiegel-Journalist als Erster die Akten der Treuhandanstalt durchforstet, um ein umfassendes, faktenbasiertes Bild dieser turbulenten Zeit der deutschen Geschichte zu zeichnen.

Im Interview erklärt Norbert F. Pötzl, warum die Treuhand bis heute von Mythen und Legenden umgeben ist und als Projektionsfläche für Enttäuschungen herhalten muss.

Herr Pötzl, Sie haben für Ihr neues Buch „Der Treuhand-Komplex“ von den rund 22.500 Treuhandakten, die seit Kurzem im Bundesarchiv zugänglich sind, etliche hundert schwerpunktmäßig ausgewertet – entspricht das Bild des Treuhand-Monsters der Realität?

Die Treuhand war eine Riesenbehörde, weil sie eine gewaltige, noch nie dagewesene Aufgabe zu bewältigen hatte. Sie musste in möglichst kurzer Zeit rund 8.500 „volkseigene“ Betriebe der DDR privatisieren. Die meisten Betriebe waren in einem jämmerlichen Zustand, ihre Maschinen und Anlagen oft museumsreif, und sie vergifteten die Umwelt. Zugleich waren sie personell überbesetzt, die Arbeitsproduktivität betrug nur etwa ein Drittel des Westniveaus. Die Löhne und Gehälter der DDR-Bürger wurden auf deren Drängen bei der Währungsunion am 1. Juli 1990 eins zu eins umgestellt. Zugleich verteuerten sich jedoch die Produkte um das Vierfache, weil die DDR-Mark höchstens ein Viertel der D-Mark wert gewesen war. Dadurch waren ostdeutsche Waren auf dem Weltmarkt kaum noch verkäuflich. Jeden Tag machten die ostdeutschen Betriebe Millionenverluste, die von der Treuhand ausgeglichen wurden, damit die Unternehmen überhaupt weiterarbeiten und ihre Mitarbeiter bezahlen konnten. Für Liquiditätskredite wurden allein bis Ende März 1991 von der Treuhand 28 Milliarden Mark aufgewandt, was ja wohl das Gegenteil von Plattmachen war. Daher war aber auch Eile geboten, Käufer für die Betriebe zu finden. Dies konnte nur ein so großer Apparat wie die Treuhand leisten.

Auch die LINKE pocht weiterhin auf eine Aufklärung und forderte im Bundestag unlängst einen Untersuchungsausschuss zur Treuhand, die AfD hat sich mit einem eigenen Antrag angeschlossen. Warum muss gerade die Treuhand als Projektionsfläche für die Enttäuschung vieler Bürger aus den neuen Bundesländern herhalten?

Die anfängliche Euphorie über die wiedergewonnene staatliche Einheit der Deutschen, die im Osten stark mit materiellen Erwartungen verknüpft war, schlug bald in Frust um, weil sich die von Politikern in Ost und West geschürten Illusionen nicht erfüllten. Weder kamen die von Bundeskanzler Helmut Kohl binnen weniger Jahre versprochenen „blühenden Landschaften“ noch stellten die DDR-Staatsbetriebe den im Osten angenommenen Vermögenswert dar, der als Kapital in das geeinte Land hätte eingebracht werden können. Stattdessen gab es eine Wirtschaftskrise. Auch wenn sich die Lebensbedingungen in Ost und West in den vergangenen Jahren stark angeglichen haben, fühlen sich viele Ostdeutsche immer noch benachteiligt: bei den Löhnen, bei den Vermögen, bei der Präsenz in Spitzenpositionen. Die Treuhandanstalt muss dabei für alles als Sündenbock herhalten, auch wenn sie erkennbar mit den Ursachen gar nichts zu tun hat.

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Wie erklären Sie sich die Diskrepanz zwischen gefühlter Erinnerung und quellenbasierter, wissenschaftlicher Forschung rund um die Treuhand?

Man weiß aus der Erinnerungsforschung, dass das Gedächtnis speichert, was mit Emotionen verbunden ist. Man behält im Gedächtnis, was für einen selbst und vor allem für die eigene Gegenwartsbewältigung wichtig ist. Das Gehirn schustert sich Erinnerungen zusammen. Es wählt aus, was es für wichtig hält, und es erfindet dazu. Es integriert auch Geschichten, die man nie selbst erlebt hat, sondern nur vom Hörensagen kennt. Und wenn man mit anderen über gemeinsam Erlebtes spricht, verfestigen sich die Erzählungen und reichern sich sogar mit weiteren Nuancen an. Fast jeder im Osten kann subjektiv Geschichten über die Treuhand erzählen; was objektiv geschehen ist, berichten die Akten.

Ein prominenter Vorwurf lautet, dass die Treuhand so gut wie ausschließlich mit Personal aus den alten Bundesländern besetzt wurde. Liegt das Zerrbild über die Tätigkeiten der Treuhandanstalt nicht auch in dieser vermeintlichen „Fremdherrschaft“ begründet?

Wie diese Legende weiterlebt, ist in der Tat erstaunlich. Die vom letzten SED-Ministerpräsidenten Hans Modrow im März 1990 installierte Treuhandanstalt war nicht nur komplett mit Ostdeutschen besetzt, sondern obendrein mit lauter alten SED-Kadern. Zur Konzipierung einer neuen Treuhandanstalt setzte der demokratisch gewählte letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière eine sechsköpfige Arbeitsgruppe ein, von denen nur zwei Westdeutsche waren. Bis zum Tag der Einheit, dem 3. Oktober 1990, waren von 379 Treuhand-Mitarbeitern lediglich 16 Westdeutsche – erst am Tag danach wurden die 15 Niederlassungsleiter von westdeutschen Managern abgelöst. Und bis zu ihrer Auflösung Ende 1994 waren in der Treuhand, die zeitweise bis zu 4000 Mitarbeiter beschäftigte, immer mindestens zwei Drittel Ostdeutsche. Die saßen zwar nicht im Vorstand, aber sie haben genauso wie ihre westdeutschen Kollegen Verträge ausgehandelt und abgeschlossen.

„Das Opfernarrativ bedroht die soziale Ordnung und demokratische Verhältnisse.

Welche Gefahren birgt solch ein Opfernarrativ für die bundesdeutsche Demokratie?

Viele Ostdeutsche geben sich als Opfer der Treuhand aus, obwohl es nicht stimmt. Es wurden viel weniger Menschen arbeitslos, als heute oft behauptet wird. Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler findet, es gebe „nichts Schlimmeres als Opfernarrative, weil sie die Berechtigung verleihen, bei nächster Gelegenheit mal so richtig draufzuhauen“. Viele Pegida-Anhänger und Wähler der AfD glauben, sie dürften radikal fremdenfeindlich sein, weil sie selbst ungerecht behandelt worden seien – als ob die Treuhand an dem in Ostdeutschland grassierenden Ausländerhass schuld sei. Das Opfernarrativ bedroht die soziale Ordnung und demokratische Verhältnisse.

Auch der Vorwurf von Korruption und Vetternwirtschaft gehört zum Standrepertoire von Treuhand-Kritik – was ist dran, an diesen Vorwürfen?

Zweifellos hat es Kriminalität bei der Treuhand gegeben. Natürlich hat die Massenprivatisierung Glücksritter und Ganoven angezogen wie Motten das Licht. Aber ein Massenphänomen waren die kriminellen Machenschaften nicht. Die Treuhand hat eigens eine Stabsstelle als interne Kontrollinstanz eingerichtet, geleitet von im Wirtschaftsstrafrecht erfahrenen Staatsanwälten.  Der letzte, Daniel Noa, schrieb in seiner Schlussbilanz 1994, wenn man bedenke, dass im Lauf der Jahre etwa 6.000 Menschen für die Treuhand tätig waren und mehr als 40.000 Privatisierungsvorgänge bearbeitet haben, dann habe „das kriminelle Potenzial […] nicht über dem in der Gesellschaft auch sonst vorhandenen“ gelegen.

Insgesamt hat die Treuhand die Transformation von mehr als 12.000 Betrieben betreut, von denen insgesamt 3.718 letztendlich liquidiert wurden. Was passierte mit den restlichen, fast 9.000 Betrieben?

Durch Teilungen der ursprünglich rund 8.500 Betriebe, die 1990 der Treuhand unterstellt worden waren, sind am Ende über 12.000 geworden. 6.546 wurden privatisiert, davon wurden rund 3000 als „Management-Buy-out“ an zumeist ostdeutsche leitende Mitarbeiter verkauft. 1.588 wurden ihren früheren Eigentümern zurückgegeben, die in der DDR enteignet worden waren; auch hierbei handelte es sich vorwiegend um Ostdeutsche, die in ihren ehemaligen Firmen tätig geblieben waren. 310 Betriebe gingen an kommunale Träger. Die Stilllegungsquote betrug rund 30 Prozent, was sogar der Prognose des SED-Ministerpräsidenten Modrow nahekam, dass 27 Prozent der DDR-Betriebe konkursreif und nicht sanierungsfähig gewesen seien.

Gerade am Tag der Deutschen Einheit muss diese Frage erlaubt sein: Argumentiert die Gegenüberstellung von „dem Osten“ und „dem Westen“ nicht an der politischen Realität vorbei? Wie lässt sich diese Barriere in den Köpfen fast 30 Jahre nach dem physischen Fall der Mauer einreißen?

In der Tat verschwimmen die Unterschiede zwischen Ost und West immer mehr. Die Wirtschaftsdaten gleichen sich stetig an, strukturschwache Gebiete gibt im Westen wie im Osten. Leider reißen diejenigen, die einen Untersuchungsausschuss oder politische Kommissionen fordern, die Gräben wieder auf. Wenn die Antragsteller bereits den Untersuchungsauftrag explizit mit „Fehlern“ und „Unrecht“ der Treuhand begründen, zeigt dies, dass ihnen nicht an objektiver Aufarbeitung, sondern nur an Schuldzuweisung gegenüber „dem Westen“ gelegen ist. Ebenso spaltet die sächsische SPD-Ministerin Petra Köpping, wenn sie als Vorbedingung für jegliches Gespräch ein „Geständnis der westdeutschen Politiker“ fordert, sie hätten Währungsunion und Treuhand nicht zum Wohle Ostdeutschlands eingeführt, sondern „um westdeutsche Bürger vor den Konsequenzen der Wiedervereinigung zu schützen“. Ich plädiere – neben der historisch-wissenschaftlichen Untersuchung der Treuhand-Geschichte – für einen vorurteilsfreien Dialog von Ost- und Westdeutschen. Ich meine damit Gesprächsforen, bei denen man gegenseitig über Erfahrungen und Erkenntnisse berichtet, sachlich und differenziert, offen für Argumente, ohne Übertreibungen und Pauschalurteile. Das könnte zum Gewinnen neuer Einsichten und zum besseren Verständnis zwischen Ost und West führen.

Die Kursbuch Kulturstiftung, in der das Buch von Norbert F. Pötzl erschien, ist mit Murmann Publishers assoziiert.

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