50 Jahre sind seit den Protesten der 68er Generation gegen rigide Sexualmoral und die Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus vergangen. Wie würde diese Bewegung heute aussehen? Und wie sieht Aktivismus generell im digitalen Zeitalter aus? Dr. Mundo Yang, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sozialwissenschaften an der Universität Siegen, forscht unter anderem zu bürgerschaftlichem Engagement im Netz und kennt sich mit heutigen Protestformen aus.
In unserem Interview erklärt der Protest-Forscher Mundo Yang, ob die 68er-Protestler heute Instagram nutzen würden und welche Rolle Algorithmen für Online-Aktivisten spielen.
Herr Yang, was meinen Sie: Hätten die Protagonisten von 1968 einen Instagram-Account und wären Protest-Influencer?
Ja, genauso wie die 68er „Bild“ und die „bürgerliche Presse“ beobachtet haben, wären sie auch in allen sozialen Medien präsent. Wichtiger wären aber eigene Websites und Plattformen.
Würde eine Bewegung wie die der 68er denn mit den neuen Kommunikationsmitteln schneller ihr Ziel erreichen als im nicht-digitalen Zeitalter?
Mittlerweile glaube ich sogar, dass die Strukturen des neuen Medienzeitalters eine einfache Wiederholung eher verhindern, gerade weil die Medienöffentlichkeiten so reaktionsschnell und übersättigt sind. Die Provokateure von damals hätten heute allerhand Probleme mit den Medienprofis und Spindoktoren auf der anderen Seite mitzuhalten. Zumindest das Ziel Aufmerksamkeit zu erreichen, ist heute schneller erreichbar. Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten eher nicht.
Gerade auch auf Twitter konnte in der jüngeren Vergangenheit über Hashtags Protest sichtbar gemacht werden. Was bedeutet diese neue Möglichkeit der Sichtbarkeit und Auffindbarkeit von Themen?
Twitter spielt im deutschen Sprachraum für Proteste nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Aber allgemein bedeutet das Netz: Es lässt sich nichts mehr so einfach unter den Teppich kehren – jedenfalls nichts, was nicht eine immer größer werdende Anzahl einzelner BürgerInnen sofort irgendwo posten würde, sodass es ganz schnell zum Politikum wird, wenn ganz viele andere Menschen das auf Anhieb auch als Problem empfinden. Was auf der Strecke bleibt, ist aber was längeren Atem und gründlicher Recherche bedarf, da sind nach wie vor investigative Journalisten und Organisationen gefragt, die auch am Ball bleiben, wenn die öffentliche Aufmerksamkeit nachgelassen hat.
Kann man zwischen physischem und virtuellem Protest überhaupt noch eine Linie ziehen?
Der Unterschied zwischen physisch und digital oder virtuell ist ziemlich 1990er Jahre. Spätestens seitdem digitales Handeln wie Einkaufen, Steuererklärung etc. allgemein gebräuchlich sind, sollten wir auch aufhören, ständig zwischen physischen und digitalen Protesten trennen zu wollen.
Im Zweifelsfall kann der Algorithmus einer Bewegung den Garaus machen, denn was nicht geliked wird, verliert oft an Sichtbarkeit und Bedeutung. Was bedeutet das für Online-Aktivisten?
Dass sie bisher einen großen Bogen um Algorithmen machen, auf eigene Medien setzen und kommerzielle soziale Medien sehr kontrolliert mit Inhalten bespielen. Wer den Zugang zum Medium kontrolliert, bewahrt seine Autonomie, da hat sich im Vergleich zu früher gar nicht so viel verändert.
Sehen Sie in diesem Zusammenhang das NetzDG als Einschränkung für die Meinungsfreiheit von Aktivisten?
Es kommt schon auch dazu, dass satirische oder mehrdeutige Beiträge von Aktivisten pauschal von den Plattformen untergepflügt werden. Ich habe insgesamt Verständnis dafür, dass man sich nun gezwungen sieht, das Problem der Internethetze von oben herab zu lösen. Aber dadurch kommen zwei neue Probleme in die Welt. Zum einen geraten kommerzielle Plattformbetreiber in die Rolle der Hüter einer demokratischen Streitkultur. Zum anderen wird das Problem der Hetze im Netz auf ein strafrechtliches reduziert. Aber die eigentliche Lösung besteht darin, dass engagierte BürgerInnen selbst den Hetzern im Netz die Stirn bieten. Das passiert glücklicherweise heute verstärkt, könnte aber stärker gefördert werden.
Das würde eine sinnvolle Selbstregulation bedeuten. Ist das der Weg, um zukünftig im Netz eine faire wie auch gewaltfreie Protestkultur zu gewährleisten?
Fairness gibt es nur im Fußball und auch da eher nur vor und nach dem Spiel. Aber im Ernst, politische Kultur ganz allgemein lebt vom Engagement der Bürgerinnen und Bürger selbst. Wenn mehr Leute wie bei der Gruppe #ichbinhier auf Facebook aktiv einschreiten würden, wenn es zu Ausfällen kommt, wäre vielmehr erreicht, auch weil es eine ganz andere Erfahrung für die Betroffenen ist, wenn ihnen Wildfremde plötzlich ganz entschlossen beistehen. Das bringt vielmehr, als nach Staat und Gerichten zu rufen.
Zu guter Letzt: Sehen Sie für dieses Jahr bereits Themen, die – online wie offline – zu Protesten führen werden?
Nichts ist so langweilig wie vorhersehbare Proteste.
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