Heute beginnt die Buchmesse. Gastland ist dieses Jahr Frankreich. Gemeinsam mit unserer Kanzlerin wird der neugewählte französische Präsident Macron die weltgrößte Fachmesse für Bücher eröffnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass er das gedruckte Buch als unersetzliches Kulturgut preisen wird, ist hoch. Das wird zweifelsohne ein festlicher Höhepunkt: Eine politische Autorität lobt eine kulturelle Autorität. Allerdings stehen beide Autoritäten enorm unter Druck, manche sehen sie gar dem Verfall nahe. Aber sie wehren sich: Macron versucht mit einer elegant verjüngten Rückkehr präsidialer Symbole die Autorität eines Staatspräsidenten im 21. Jahrhundert neu zu beleben. Ob es ihm gelingt, bleibt offen. Genauso offen ist der Kampf um die Zukunft des Buches, seiner Autoren und des Lesepublikums in Zeiten digitaler Transformation unserer Lebenswelt.
Die Wortverwandtschaft zwischen Autorität und Autorschaft ist kein Zufall: Autoren galten über Jahrhunderte hinweg als Autoritäten, die von anderen Autoritäten durch Zensur oder Selektion sanktioniert wurden. Es ist erstaunlich, dass trotz der Modernisierung und Demokratisierung des Lesens in der Neuzeit gewisse Autoren den wirkungsvollen Status einer kulturellen Autorität halten können – Literaturnobelpreisträger zum Beispiel. Und sind wir doch ehrlich mit uns: Ein wenig Zwang empfinden wir schon, die nicht erfolgte Lektüre eines Buches von Kazuo Ishiguro nachzuholen. Das Nobelpreiskomitee, unterstützt von den Hilfsautoritäten weltweiter Medien, übt sanften Druck aus: Das müsst Ihr lesen, Ihr Leser weltweit! Der Ishiguro-Efffekt schlägt zu. So werden Bestseller (neu)geboren.
Die vor uns liegende Buchmesse entspricht in weiten Teilen immer noch dieser Bestsellerlogik, die von angesehenen und akzeptierten kulturellen Autoritäten quasi systemisch unterstützt wird. Dazu gehören vor allem die von Jury-Autoritäten zusammengestellten Shortlists aller Genres, aus denen neue Preisträger hervorgehen werden. Ist dies denn nach wie vor die einzige Möglichkeit durch den Dschungel durchzudringen, frage ich mich? Auf der Suche nach Alternativen kommt mir das Startup Inkitt.com in den Sinn, eine reader-powered publishing platform. In Berlin gegründet, 2015 in Deutschland mal kurz in den Medien gewesen, da Paulo Coelho einen Text auf Inkitt gestellt hat. Die Idee von Inkitt ist antiautoritär in dem Sinne, dass die Macht beim Publikum liegt und das Publikum entscheidet, welche Geschichte Aussicht auf Erfolg hat. Autoren reichen Geschichten in einer Frühphase ein, Inkitt testet diese in seiner Lese-Community und verfolgt dabei mittels Datenanalyse das Leseverhalten. Der vom Inkitt-Team programmierte Algorithmus ist der eigentliche Unternehmenskern. So können den Autoren wichtige Hinweise für das Weiterschreiben vermittelt werden und es entstehen zielgruppengenaue Geschichten. Einige bei Inkitt verlegte E-Books schafften es in der Kindle Edition auf Amazon Bestsellerlisten. Die Jury ist die Gemeinschaft der Leser. Klingt erstmal mega-antiautoritär und demokratisch und für die Zukunft der Buchmesse irgendwie auch gefährlich, denn es liegt auf der Hand, dass Verlagsplattformen dieser Couleur keine Buchmesse mehr benötigen. Die Selektion, was gut und brauchbar ist, findet im Netz statt.
Trotzdem beginnt heute die Buchmesse. Auf meinem Schreibtisch liegen die Literaturbeilagen der großen, wichtigen deutschen Tageszeitungen. Auch das nicht ganz so große und wichtige Hamburger Abendblatt traut sich dieses Jahr mit einem Gruß aus der autoritären Vergangenheit: Der Literaturchef hat für uns 25 Werke der Weltliteratur ausgewählt, die wir gelesen haben müssen. Warum 25 und nicht 10 oder 50? Bei weltweit zehntausenden Neuerscheinungen jährlich ist jede Zahl unter 1000 wagemutig und nur ein echter Chef darf sich das trauen. Beim Durchforsten dieser 25er-Chefselektion schleicht sich bei mir schon wieder dieses Ishiguro-Gefühl ein, eine Mischung aus schlechtem Gewissen und der berufsbedingten Sehnsucht nach Anerkennung bei Literaturchefs. Mist, das muss ich jetzt auch noch lesen, um dazuzugehören. Würde ich mich nicht wohler, befreiter fühlen als Teil der Inkitt Mitmach-Community? Wäre das die antiautoritäre Erlösung? Dann hätte ich zumindest daran mitwirken können, dass Inkitt-Werke auch eines Tages von Literaturchefs auf 25er-Listen positioniert werden. Doch wer ist eigentlich der Chef hinter den auf Amazon-Listen aufblinkenden Inkitt-Bestsellern? Der Algorithmus. Und wer hat den Chefstatus inne, von dem der Algorithmus wiederum abhängig ist? Die agilen, kollaborativ arbeitenden Programmierer sind es. Solange Inkitt oder Amazon die künstliche Intelligenz ihrer literarischen Selektion noch von Menschen programmieren lassen, die morgens einen Kaffee trinken und abends nach Schweiß riechen, bleibt immerhin der Mensch noch Chef hinter dieser digitalen Maschinerie. Dennoch rutscht aus Sicht des Buchkulturmenschen mit der Autorität des Algorithmus ein Igitt-Faktor in die Inkitt-Lösung. Doch damit muss ich wohl leben.
Hinweis: Inkitt ist ein assoziiertes Unternehmen der Murmann Publishers.
Foto: © Michaela Kuhn