Offensichtlich geht die Ära einer befriedeten Welt nach dem Mauerfall zu Ende. Die Globalisierung tritt in eine neue Phase ein – und vieles von dem, was wir in den Nullerjahren unter Globalisierung verstanden haben, könnte in den kommenden Jahren relativiert oder auch aggressiv revidiert werden.
Zwei Triebkräfte werden im globalen Maßstab (und nicht nur auf die aktuelle Situation in Mitteleuropa bezogen) bis ins Jahr 2030 vorherrschend sein:
- Die Bindungskräfte zwischen Bürger, Gesellschaft und Staat schwinden dramatisch. Das Vertrauen in Institutionen wie Verwaltung, Rechtsprechung, Bildung und Politik muss in vielen Regionen vollkommen neu geschaffen werden.
- Die Menschen sehnen sich nach einem größeren sozialen Zusammenhalt. Die Einbindung der Zivilgesellschaft in nationales und übernationales Handeln muss aus diesem Grund gestärkt werden.
Dabei stehen fünf Szenarien im Vordergrund, die in den kommenden Jahren die Wirtschaft und die Gesellschaft mitunter dramatisch verändern werden:
1. Multipolare Balance-Welt: die globale Klimatransformationsgesellschaft
Eine multipolare Weltordnung, die zwangsläufig zu kulturellen und religiösen Konflikten führt, war für den konservativen US-Denker Samuel P. Huntington unausweichlich. Doch nach der Bewältigung der Flüchtlingskrise der Jahre 2016 bis 2020 findet die Weltgesellschaft eine neue Wertorientierung – in erster Linie durch die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens. Eine geläuterte EU und ein Russland, das neue Perspektiven jenseits seines Energiegeschäfts dringend nötig hat, definieren eine erwachsene, paneuropäische Vernunft-Partnerschaft. Die bis 2030 dominierenden Volkswirtschaften China, Indien und die USA arbeiten in konstruktiven Wachstumskooperationen zusammen, die sich vornehmlich über die Innovationsmärkte Wind und Solarenergie definieren.
2. Mittelalter digital: die Ära des misstrauischen Staates
Ein umfassendes Misstrauen dominiert dieses 2030-Szenario – Misstrauen gegenüber den Nachbarstaaten, gegenüber globalen Kooperationen und gegenüber der eigenen Bevölkerung. Massenmigration in vielen Teilen der Welt, soziale Unruhen und Klimaflüchtlinge führen dazu, dass Kooperationen, die auf zwischenstaatlichem und zwischenmenschlichem Vertrauensvorschuss basierten, aus egoistischen Erwägungen verworfen werden. Die Staaten im Szenario „Mittelalter digital“ werden sich unter anderem privater Ordnungskräfte bedienen, um wenig Angriffsfläche zu bieten, Konflikte jedoch „entschlossen“ zu lösen. Das Internet dient vorrangig als Kontrollwerkzeug, um eine strikte Überwachung im Inneren und nach außen sicherzustellen. „Mittelalter digital“ konkretisiert sich in den Lebensbedingungen der Menschen als eine Mischung aus „Big Brother“ und Gated Community.
3. Stadt-Staaten 2.0: die digital-nachhaltige Hotspot-Gesellschaft
Bis ins Jahr 2030 und noch darüber hinaus wird das mangelnde Vertrauen gegenüber den in die Jahre gekommenen Demokratien und ihren Institutionen ein konfliktträchtiges Thema bleiben. Schon heute wird in den 300 wirtschaftlich am schnellsten wachsenden Städten dieser Welt laut „Global Metro Monitor“ die Hälfte des weltweiten Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet. Diese Entwicklung wird sich in den 2020er Jahren weiter verfestigen. Städte avancieren zum identitätsstiftenden Plan B einer Weltgesellschaft, die nach Orientierung und Vertrautheit sucht. Über landwirtschaftliche Innovationen wie Vertical Farming bilden sich ab 2020 neue Wirtschaftsgeografien heraus: Es wird immer weniger Natur verbraucht, auch Megacitys (Städte mit mehr als zehn Millionen Einwohnern) nutzen drei, vier gigantische Gemüsetürme vor Ort, in der Stadt. Dadurch entstehen riesige renaturierte Flächen um die Städte herum, die den CO2-Ausstoß dieser modernen Agglomerationen minimieren.
4. Regionale Vernunftbeziehungen: die entglobalisierte Identitätsgesellschaft
Gerade im Süden und im Osten unserer Welt werden sich in den kommenden Jahren neue staatliche Zusammenschlüsse bilden, die auf zweierlei setzen: starke Führer (die die Vorzüge eines neonationalen Narrativs predigen) und regional begrenzte zwischenstaatliche Kooperationen, deren Stärke darin besteht, Wertschöpfung, Arbeitskräfte und Macht vor Ort zu konzentrieren. Der naheliegende Vorzug regionaler Kleinkooperationen für die Bevölkerung: Schutz, Planbarkeit und eine Perspektive für den eigenen Lebensentwurf. Die Staatenlenker auf der anderen Seite demonstrieren dem „Volk“, dass die Globalisierung der Nuller und 10er Jahre ein schlechter Witz war, und erzählen ab jetzt wieder Erfolgsgeschichten von gelingender Identität abseits der Trümmer einer in sich verrotteten Globalgesellschaft, an die ohnehin nur noch amerikanische Computerfirmen glauben.
5. Der neoautoritäre Staat: Identität durch Abriegelung
Russland hat dieses Szenario in den vergangenen fünf Jahren besonders geprägt. Doch Russland ist beileibe nicht der einzige Staat, der die gefühlte und die tatsächliche Entwurzelung der Menschen, die Ungleichheit und den globalen Vertrautheitsschwund dazu nutzt, sich als starker Staat zu profilieren. Neoautoritäre Staaten wie Indonesien, Malaysia und natürlich auch China überzeugen ihre braven Bürger künftig mit dem Versprechen, dass eng begrenzte nationale Interessen konsequent vertreten werden. Es bestehen autoritäre Festlegungen, wer Bürger dieses Landes sein darf und wer nicht. Mit einer solchen neonationalistischen Abriegelungspolitik wird die Identität der „Inländer“ massiv gestärkt, was von ihnen mit einer großen Loyalität und Solidarität dem patriarchalen Staat gegenüber honoriert wird. Diversität und Multikulturalität gelten in diesem autoritären Obrigkeitsstaat als überwundene Intermezzi einer orientierungslos gewordenen Weltgesellschaft.
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