»Da kenne ich doch schon alles, da komme ich nämlich her.«
Haben Sie sich selbst schon mal bei diesem Satz ertappt? Mir passiert das regelmäßig. Ich muss allerdings bei diesem Reflex ganz besonders vorsichtig sein, denn als gebürtiger Schleswig-Holsteiner und Jetzt-Hamburger bin ich Verleger eines Regionalverlags mit Schwerpunkt Schleswig-Holstein und Hamburg. Deshalb bin ich immer wieder dankbar für literarische und nicht-literarische Erfahrungen, die diese irregeleitete Voreinstellung herausfordern.
Alltag als Schleier der Wahrnehmung
Warum also meinen wir unsere Heimatregion bis in den letzten Winkel zu kennen, obwohl dies in den meisten Fällen gar nicht sein kann? Es hängt an den Ritualen, den jährlich wiederkehrenden Volksfesten und Feiertagen, den Heimspielen in stets demselben Stadion, die Wege zur Schule oder zur Arbeit, die man in und auswendig kennt. Heimat und ritualisiertes Alltagsleben fallen zusammen und gehen eine Verbindung ein, die uns heimatmüde machen kann. Unsere Neugierde, die sich eher nach der Ferne richtet, und das unmittelbar Vertraute finden nicht mehr zusammen.
Diese sich einschleichende Heimatmüdigkeit ist schade, weil es eigentlich immer Neues zu entdecken gäbe. Wir sehen es nur nicht. Es braucht also Impulse, die uns aus unserer Heimatmüdigkeit wecken.
Außenblick als Weckruf
Der Impuls kann von außen kommen, spätestens bei der obligatorischen Frage nach der Herkunft. Auch wenn diese Frage oft lästig erscheint, zwingt sie uns doch, uns mit der Heimat zu beschäftigen – allein durch ihre Beständigkeit im Alltag. Was macht unsere Heimat aus? Was schätzen wir an ihr? So war es auch bei unserem Murmann-Autor Christian Hille, dessen Buch »NeuHarz: Aus Vergangenheit wächst Zukunft« am vergangenen Sonntag im Weltkulturerbe Rammelsberg vorgestellt wurde. Der gebürtige Clausthaler erlebte auf die Frage nach seiner Herkunft oft dieselbe Reaktion: »Da gibt es doch nur Totholz und Borkenkäfer«. Man könnte es nun eine Trotzreaktion nennen – genau diese Antwort hat unseren Autor aber dazu verleitet, sich trotz internationaler Karriere wieder stärker mit der Region zu identifizieren. Auch, weil er dieses Bild trotz Distanz so nicht stehen lassen wollte. Gemeinsam mit dem Fotografen Lars Wiedemann hat er deshalb für »NeuHarz« über drei Jahre lang seine Heimat erkundet – und dort Menschen gefunden, die aus »Totholz« Zukunft machen. Und dabei hat er zahlreiche Verbündete gefunden, die mit Innovationskraft, Gestaltungswillen und nachhaltigem Fortschritt eine Region aus der Heimatmüdigkeit in die Zukunft führen wollen.
Durch Geschichte neu entdecken
Oder ein innerer Impuls eröffnet mit der Frage »War das eigentlich schon immer so?« eine historische Perspektive zurück zur Heimat: Das denkmalhaft Vertraute löst sich sofort in Unbekanntes auf. Die Vielschichtigkeit des geschichtlich Gewachsenen, die Pläne und Entwicklungsstrategien unserer Vorfahren sowie historische Zufälle, überraschende Entwicklungen, Klimaveränderungen und kulturelle Umwälzungen, Siege und Niederlagen vergangener Zeiten haben zu dem geführt, was wir heute beleben und erleben – in unserem Dorf, in unserer Stadt, in unserer Region. Ein spannendes Beispiel für diese historische Perspektive ist das Buch »Der Raub« von Cord Aschenbrenner, der die Arisierung des Neuen Walls in Hamburg erstmals systematisch aufarbeitet. Auch, wenn ich den Neuen Wall in meinem Leben tausende Male auf und ab gelaufen bin – die Art und Weise, wie diese Verbrechen aus dem Dritten Reich bis heute dort nachwirken, war mir so nicht bewusst. »Da kenne ich doch schon alles, da komme ich nämlich her.« kommt mir seither nicht mehr über die Lippen.