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„Lügen haben kurze Beine“ ist einer dieser Sprüche, den wir als Kinder von unseren Eltern auf den Weg mitbekommen. Damit sollen wir lernen, dass sich die Wahrheit auszahlt – und verlieren sie im Laufe des Erwachsenenleben dann doch immer wieder aus den Augen. Das Prinzip der radikalen Ehrlichkeit, ursprünglich entwickelt von Brad Blanton, soll uns wieder auf den Pfad der wahrheitsliebenden Tugendhaftigkeit führen – und Zukunftsforscher Tristan Horx sieht in der Methode Potenzial, auch für die Wirtschaft.

Im Interview erklärt Zukunftsforscher Tristan Horx, warum er die radikale Ehrlichkeit gerade jetzt wiederentdeckt hat, was sie für die Unternehmenskultur bedeuten kann und wo die Grenzen radikaler Ehrlichkeit liegen.

Herr Horx, wie oft haben Sie heute schon gelogen?

Ich bin in meinem Umfeld schon immer eher dafür bekannt gewesen, dass ich oft unangebracht ehrlich bin. Insofern habe ich heute hoffentlich weniger oft gelogen als der Durchschnitt.

Ungefähr, so schreiben Sie in Ihrem Text beim Zukunftsinstitut, lügen wir 150- bis 200-mal pro Tag. Als Gegentrend identifizieren Sie die radikale Ehrlichkeit – ein Prinzip, das aus den 1990ern stammt. Warum entdecken Sie es gerade jetzt wieder?

Als das Konzept entwickelt wurde, war die Welt und vor allem unsere Kommunikation noch nicht so technologisiert, wie wir das heute kennen. Fake-News, anonymisierte Hate-Aktionen auf Social Media oder oberflächliches Online-Gedöns sind Themen, die immer mehr Raum einnehmen und Antworten von uns verlangen. Und oft sind es ja neue Technologien, die alte Prinzipien wieder auf ihre eigentliche Stärke zurückführen. Radikale Ehrlichkeit wäre so eines.

Wie funktioniert das Prinzip?

Im Grunde sehr einfach. Man sagt was man denkt, wenn man es denkt und das ohne Schuldgefühle. Denn man ist ja nicht schuldig für das, was man fühlt. Aber genau dieses Gefühl bringt uns oft dazu auf die Lüge auszuweichen. Bei radikaler Ehrlichkeit trainiert man sich dieses Gefühl ab. Was aber essentiell wichtig ist zu verstehen: Das Prinzip der radikalen Ehrlichkeit ist nicht mit der Realität des Lebens vereinbar und anwendbar. Deswegen empfiehlt es sich, entweder ein Seminar zu besuchen und dort eben ein paar Tage radikal ehrlich zu sein oder sich im Alltag langsam dem anzunähern. Es reicht oft schon, ein paar Mal das Unbehagen der radikalen Ehrlichkeit zu erleben, um einen neuen Umgang mit der Wahrheit und Kommunikation zu finden.

Die Anwendung von radikaler Ehrlichkeit hätte nicht nur Auswirkungen auf die Politik oder das menschliche Miteinander, sondern auch für die Wirtschaft. Was bedeutet der Ansatz der radikalen Ehrlichkeit für Unternehmen, lässt er sich überhaupt realisieren?

Klar. Denken Sie nur daran, wie oft sich Führungspersonen für ein vorbereitetes Dokument, dass ihnen ihr Teammitglied gerade geschickt hat, bedanken, um es dann hinterher komplett umzubauen oder neu zu machen. Das ist nicht nur ein schlechter Führungsstil, sondern immer auch gelogen. Es ist doch viel produktiver, wenn wir uns ehrlich sagen, dass etwas unbrauchbar ist oder wir es in einer anderen Form benötigt hätten. So hätten beide etwas davon. Der Mitarbeiter weiß, wie er es anders besser machen kann und der Chef gewinnt wertvolle Zeit.

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Wie sehr hängen radikale Ehrlichkeit mit einer in Unternehmen oft geforderten Fehlerkultur der Mitarbeiter zusammen?

Aus Fehlern kann man lernen, wenn man Sie als solche versteht. Wir haben doch das Problem, das wir viele Fehler uns selber nicht eingestehen, weil wir auch von anderen nicht hören, wie schlecht mal eine Leistung war. Wir begnügen uns mit inhaltsleeren Floskeln, um dann schnell zur nächsten Aufgabe zu wechseln. Wie schön wäre eine Arbeitskultur, in der Sie Ihrem Chef ohne Bedenken sagen könnten: „So wie du das Meeting heute geleitet hast, war es katastrophal. Das darf uns beim nächsten Mal nicht passieren. Wir verlieren wertvolle Zeit.“ Und wenn Sie Ihrem Chef Ihre Meinung offen und ehrlich kommunizieren können, ist es auch okay, wenn er Ihre Leistung mal als „bescheiden“ bezeichnet. Hier kann man sich viel verschwendete kognitive Arbeit sparen, die man zur „Abstumpfung“ und „Aufnettung“ von schlechter Arbeit verwendet. Sie sehen also: Auch in der Unternehmenswelt sind viele unserer Interaktionen durch Lügen abgeschwächt und entpersonalisiert. Dabei könnten alle – das Unternehmen im Gesamten und jeder Mitarbeiter im Einzelnen – mit einer guten Dosis Ehrlichkeit besser werden.

In unserer von Marketing geprägten Welt werden die – vermeintlich unschönen – Fakten unter den Tisch fallen gelassen und das Positive hervorgehoben. Das ist ja aber noch nicht lügen, oder?

Nein, aber es ist ein schönes Abbild unseres Problems. Lügen haben auch Grade, Schattierungen. Ironie, Übertreibungen und Zynismus sind alles Ausformungen, die wir als solche gar nicht mehr wahrnehmen. Übertriebene Nettigkeit ist eine Verzerrung der Wahrheit, genauso wie Produktverherrlichung. Man merkt, dass viele der jungen Konsumenten das satt haben. Ehrliche Marketingkampagnen, die mit den Stärken und Schwächen ihres Produktes umgehen können, haben echtes Potential. Kunden wollen als denkende, individuelle Menschen wahrgenommen werden.

Jüngere Menschen sind aber durch Social Media in der Selbstdarstellung und Inszenierung erprobt, korrigieren etwa mit Filtern das eigene Aussehen. Neigen diese social-media-affinen, jungen Menschen dann auch eher zum Lügen im Job?

Der Trend zur ICH-AG und der generellen Oberflächlichkeit ist sicherlich stark durch unsere digitale Präsenz verursacht. Man muss unterscheiden: Ja, Millenials sagen, Sie finden es eher okay, durch eine Lüge aus einer unangenehmen Situation zu kommen. Allerdings ist im jüngeren Alter die Frage der Außenwahrnehmung immer viel wichtiger – nicht nur für die Generationen Y und Z. Natürlich hat die digitale Oberflächlichkeitskultur von Instagram & Co. hier einen Einfluss, aber Selbstinszenierung und die dadurch resultierende Identitätsfindung gehören auch zum Reifungsprozess dazu – egal in welchem Jahrzehnt. Am Arbeitsmarkt hat man schon bemerkt, dass Jüngere oft etwas zu direkt mit ihren Wunschvorstellungen sind.

Und wo ist für Sie die Grenze von radikaler Ehrlichkeit?

Grundsätzlich würde ich sagen, jeder muss sich hier selbst hin tasten. Ich persönlich finde, dass sich radikale Ehrlichkeit vor allem dort rentiert, wo Sie Menschen gut kennen. Man kann schon mit nur einer echten Wahrheit neuen Bekanntschaften klar kommunizieren, dass man Ehrlichkeit besonders schätzt, ohne brutal beleidigend zu werden. Je enger die Beziehung mit jemanden ist, desto funktionaler wird es. Mit Kollegen mit denen ich lange zusammenarbeite, sparen wir uns so viel Energie, wenn ich einfach sage: „Das ist kompletter Schrott, wir müssen das nochmal überdenken”. Das bringt auch Energie in Meetingkulturen hinein, man schwafelt nicht leer vor sich hin. In Beziehungen mit Lebenspartnern hingegen würde ich ein hohes Maß an Ehrlichkeit von Anfang an empfehlen. Und mit guten Freunden macht es sowieso am meisten Spaß, wenn man sich offen und ehrlich beleidigen kann. (lacht)

Mehr zum Thema: Blanton, Brad: Radical Honesty, How to Transform your Life by Telling the Truth (TN) 2007

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