Inspiration statt Idealisierung: Warum echte Geschichten mehr bewegen als makellose Vorbilder.
Im Laufe meines Berufslebens und im Rahmen meiner ehrenamtlichen Tätigkeiten bin ich immer wieder gefragt worden, ob ich auf meinem Lebensweg Vorbilder gehabt hätte. Die Frage, so lebensnah und sinnvoll diese sein möge, lässt mich stets Schmunzeln, mehr noch, sie löst ein gewisses Unbehagen bei mir aus. Ich streite zwar nicht ab, dass es Vorbilder in meinem Leben gegeben hat oder gibt, aber ich wehre mich dagegen, sie als richtungsweisende Kraft für mein Handeln zu idealisieren.
Verlust des Vorbild-Status – die Illusion der Ganzheitlichkeit
Das Unbehagen mit den Vorbildern rührt aus der vermeintlichen Ganzheitlichkeit der Personen, die als Vorbilder dienen. Damit werden wir weder ihnen gerecht noch sind wir ehrlich mit uns selbst. Wenn wir zum Beispiel unsere Eltern, Geschwister oder nahe Verwandte in unserer Jugend als Vorbilder hatten, haben sich die Bilder von Ihnen im Laufe unseres Erwachsenenwerdens verändert, differenziert, bis zu dem Phänomen, dass sie ihren Vorbild-Status verloren haben. Erst dann wird uns bewusst, wie sehr wir früher diese Menschen auf gewisse, uns bestärkende Charaktereigenschaften oder Verhaltensweisen reduziert haben.
Wenn wir uns Bilder von einem Menschen machen, setzen wir die Person wie ein feststehendes, imaginiertes Portrait in einen Rahmen – und das finde ich problematisch, weil es letztendlich Komplexität negiert. Es entsteht ein gezwungen-harmonisches Bild der Person, die zum Vorbild erkoren wird. Ohne diese Illusion der Ganzheitlichkeit könnten diese die Vorbildfunktion nicht ausfüllen. Doch auch das Leben von Vorbildern spielt sich nicht in einem vorgefertigten Rahmen ab, sondern in einem offenen Lebenslauf, der von herausfordernden Überraschungen, Umwegen, Zufällen und Brüchen mindestens so geprägt ist wie von Plänen, Zielsetzungen, Erfolgen und glücklichen Fügungen.
Soziale Medien – und nun?
Viele Vorbilder werden gemacht, entweder von den Personen selbst oder durch deren Öffentlichkeit. Die sozialen Medien können diesen Effekt enorm verstärken. Ihre ikonographische Kraft überblendet in der Regel einen differenzierten Blick auf Personen in der Öffentlichkeit. Ein Indiz dafür ist auch, dass der Weg vom Vorbild zur Persona non grata sehr kurz sein kann, wenn das Vorbild aus dem idealisierten Handlungsrahmen ausbricht.
(Un)echte Vorbilder
Dennoch finde ich, dass wir von anderen Menschen lernen können, uns an ihnen orientieren können, indem wir uns nicht von einer vermeintlichen ganzheitlichen Personalität beeindrucken lassen, sondern uns mit ihren Denk- und Handlungsweisen auseinandersetzen. Durch dieses In-Beziehung-Setzen entdecken wir Überschneidungen und Unterschiede. Letztere können uns animieren, besser zu werden oder Dinge in Zukunft anders zu sehen und zu tun.
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