Europa steht kurz vor der Europawahl vor einer wichtigen Wegmarke: Einerseits stehen Brexit, Nationalismus und die Erosion von Rechtstaatlichkeit in einigen Mitgliedsstaaten der EU symbolisch für den Vertrauensverlust und die Fliehkräfte dieses Staatenbundes sui generis. Andererseits zeigen unter anderem die Reformvorschläge vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dass die vielbeschworene Einheit in Vielfalt durchaus eine politische Zukunft hat. Fest steht: Die neunte Wahl zum Europäischen Parlament, die in genau sechs Monaten vom 23. bis zum 26. Mai in den – dann nur noch 27 – Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stattfindet, gilt als Zerreisprobe für das Europäische Projekt. Wohin steuert Europa? Wie lassen sich Nationalisierungstendenzen einhegen? Und wie lässt sich das Verantwortungsbewusstsein und das Vertrauen der Bürger in das Europäische Projekt nachhaltig stärken? Das sind die großen Fragen, um die es auch bei der Europawahl gehen wird.
Wir haben – ein halbes Jahr vor der Europawahl – mit der Kultur- und Europawissenschaftlerin Marie Rosenkranz vom Think Tank European Democracy Lab in Berlin über die Zukunftsaussichten der EU, Populismus und die Vermittlung der Europäischen Idee gesprochen.
Frau Rosenkranz, wird die Europawahl im nächsten Jahr womöglich die wichtigste Wahl in der Geschichte der Europäischen Union?
Alle Europawahlen sind wichtig, obwohl sich zuletzt 2014 nicht einmal mehr die Hälfte der EU-BürgerInnen daran beteiligt hat. Schuld daran ist weniger ein vermeintliches Desinteresse der Leute an Europa, sondern die Tatsache, dass das Parlament gegenüber dem mit nationalen Regierungsvertretern besetzten Rat nicht so viel Gewicht hat. Natürlich ist die Beteiligung bei nationalen Wahlen dann höher als bei der Wahl des Europäischen Parlaments. Bei einer niedrigen Wahlbeteiligung ist das Problem, dass sich insbesondere radikale Positionen durchsetzen – wer wütend auf die EU ist, geht eher zur Wahl, als jemand, der die EU grundsätzlich unterstützt, gerade aber nicht weiß wofür genau er oder sie seine Stimme geltend machen soll. Das Parlament zu stärken ist deshalb dringend notwendig.
Welche Gefahr geht von rechtspopulistischen Parteien wie der ungarischen Fidesz-Partei, des französischen Front Nationale oder der Alternative für Deutschland aus?
Diese vorhin beschrieben Schieflage zum Radikalen bereitet mir große Sorgen. Wenn im Europaparlament immer mehr Leute sitzen, die die EU bremsen oder gar abschaffen wollen, wird das Parlament zunehmend handlungsunfähig. Dabei gibt es so viel zu tun!
Ist das Modell des Staatenverbundes nicht längst überholt? Sind nicht Städte und Regionen in viel höherem Maße identitätsstiftend?
Zumindest werden Städte und Regionen als politische Identifikationsgrößen noch unterschätzt, sie haben oft wenig Kompetenzen auf nationaler, geschweige denn europäischer Ebene. Beim European Democracy Lab beobachten wir zudem, dass die Nationalstaaten zunehmend zum Problem für das Gemeinwohl der BürgerInnen in Europa werden. Beispiel Brexit: Es werden durch den Brexit deutlich mehr „Verlierer“ als „Gewinner“ produziert, sowohl aus nationaler als auch aus europäischer Perspektive.
Wie sähe für Sie ein Gegenentwurf zum „Europa der Nationalstaaten“ aus, der für mehr innereuropäischen Zusammenhalt sorgt?
Das European Democracy Lab vertritt die Europäische Republik als mögliche Zukunftsarchitektur Europas. Dieser zunehmend diskutierte Entwurf, den unsere Gründerin Ulrike Guérot in ihrem Buch „Warum Europa eine Republik werden muss“ erklärt, besteht vor allem in der Idee: ein Markt, eine Währung, eine Demokratie – mit politischer Gleichheit für alle europäischen BürgerInnen und starken Städten und Regionen.
In Bezug auf politische Identifikationsgrößen kann ich auch an mir selbst beobachten: Als Bürgerin betrifft mich vor allem Lokalpolitik und Politik auf europäischer oder globaler Ebene, wie z. B. der Klimawandel. Der Bezug zu Deutschland als Nationalstaat beruht weniger auf meiner politischen Identifikation, sondern auf meinen Rechten als deutsche Staatsbürgerin. Ich gebe diese Rechte aber gerne an eine europäische Ebene ab: Warum sollte ich nicht die gleichen Rechte mit meinen Freunden in Granada oder meinen polnischen Nachbarn teilen? Die EU muss sich viel erklären, der Nationalstaat aber nicht. Das erscheint mir langfristig als nicht so selbstverständlich, wie es oft dargestellt wird.
Die EU-Kommission ist besonders häufig Zielscheibe von Kritik. So wird sie gerne als „Verwaltungsmonster“ bezeichnet, obwohl die Kommission – die immerhin für 510 Millionen Bürger zuständig ist – mit 32.000 Mitarbeitern nur ungefähr doppelt so viele Beschäftigte hat wie die Stadt Köln. Wie lässt sich mit derartigen Vorurteilen aufräumen? Hat die EU ein Vermittlungsproblem?
Danke für dieses anschauliche Beispiel! Die EU-Gegner benutzen gute Bilder: sehen Sie das „Verwaltungsmonster“ nicht auch vor Augen, wenn Sie das hören? Die Pro-EuropäerInnen fangen damit gerade erst an. Der niederländische Architekt Rem Koolhaas hat mal von einem „ikonografischen Defizit“ der EU gesprochen. Gemeint ist damit, dass es der EU – neben des demokratischen Defizits – auch an einer funktionierenden Symbolik und Materialität fehlt. Welche Bilder assoziieren Sie mit der EU? Männer in Anzügen vor Brüsseler Institutionen? Das schafft – berechtigterweise – keine Identifikation! Politik wird auch über Bilder verhandelt. Die Flagge finde ich toll, aber letztendlich paraphrasiert sie die Symbolik von Nationalstaaten.
An der Kommunikation der EU arbeiten deshalb mittlerweile die BürgerInnen selbst, auch Künstler wie Wolfgang Tillmans oder wir als Verein haben durch das European Balcony Project zu einer diversen Bildsprache aufgerufen. Eine gute, bildhafte Sprache zu Europa habe ich übrigens das erste Mal in Ulrike Guérots Buch entdeckt.
Wenn sie eine Beraterin einer proeuropäischen Partei im Wahlkampf wären – welche Ratschläge würden Sie der Partei für einen erfolgreichen Wahlkampf mit auf den Weg geben?
Es braucht mutige Bekenntnisse zu Europa und klare, auch radikale pro-europäische Forderungen! Den Wahlkampf gezielt auf eine langfristige Zukunft auszurichten, auf die Interessen junger EuropäerInnen, das wäre ein starkes und hoffnungsvolles Zeichen.
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