Wenn der Frühling uns mit warmem Sonnenschein erfreut, macht es doppelt Spaß, in schräge, dunkle Welten abzutauchen. Die Kulturtipps für den Mai.
Zeitgenössischer Klangrausch
Moritz Eggert, Komponist, Pianist, Performer, Dirigent, Autor und auf seinem aktuellen Album „Muzak“ auch Sänger, überrascht immer gern. Genre? Kennt er nicht. Grenzen? Sind da, um überschritten zu werden. Klassik? Ja, aber… Gern auch gemixt, variiert, den strengen Vorgaben enthoben. Wo bleibt in der zeitgenössischen Musik das Zeitgenössische? Das, was wir täglich hören in der U-Bahn, im Kaufhaus, im Restaurant, im Flugzeug? Moritz Eggert schafft mit „Muzak“ eine Erzählung unserer alltäglichen Klangwelt, will unser Ohr nicht an das Gefällige, Populäre gewöhnen, auch wenn wir uns wähnen, es permanent aus seinen Kompositionen herauszuhören. Man sollte erst gar keine Erwartungshaltung entwickeln, wenn man „Muzak“ zur Hand nimmt. Sie werden eh nicht erfüllt. Und immer bleibt die Frage: „Wie schreibt man heute fürs Orchester?“. Wie klingt ein Stück, in dem alles Orchestermitglieder permanent spielen? Im siebten Teil seines Zyklus‘ „Number Nine VII: Masse“ stellt sich Moritz Eggert dieser Aufgabe und spült uns weg in einem Klangrausch.
Moritz Eggert
mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks
Muzak
Number Nine: Masse
NEOS Music, 2018
Wien wie wir es noch nie erlebt haben
Es ist ein Opus magnus, das David Schalko mit seinem fünften Roman „Schwere Knochen“ hier vorlegt. Eine aberwitzige, kauzig-schräge, schonungslose Reise in die Unterwelt Wiens. 1938 beginnen die vier Freunde Ferdinand Krutzler (der Notwehr-Spezialist), Sikora (der Zauberer), Wessely (der Bleiche) und Praschak (der Fleischer) im Wiener Stadtteil Erdberg mit ihrer „Erdberger Spedition“ eine Ganovenlaufbahn, die sie bis ganz nach oben auf der Karriereleiter unter den Kriminellen führt. Sie beherrschen Wien in den Jahren nach dem Krieg. Davor? War das Konzentrationslager, das die vier zu dem machte, was sie werden sollten: Skrupellose Seelen, gebrochen durch den Naziterror, geschickt darin, sich durch jedwede Form des Ungemachs zu schlagen. In einem Wien, das durch vier Besatzungsmächte beherrscht wird und dadurch keine Regeln kennt, bauen sie ein Imperium aus Bordellen und Spielhöllen auf. Rücksichtslos bahnen sie sich ihren Weg, prügeln, bestechen und morden. Und sind am Ende abgehängt von den neu anbrechenden Zeiten. David Schalko gelingt ein packendes Gangsterdrama, großartig in Sprache und Form, humorvoll und ironisch, voller Überraschungen über ein Wien, das wir so noch nicht kennen, das es aber gegeben hat. Jahrelang hatte der Autor recherchiert, bis er ein Bild der Zeit zusammensetzen konnte. Nichts für empfindsame Seelen, aber ein morbid-wienerisches Schmankerl für laue Maiabende!
David Schalko
Schwere Knochen
Kiepenheuer und Witsch, Köln 2018
Gangster Rap auf Berlins Straßen
Vom alten Wien ins Berlin unserer Tage. Im Hier und Jetzt ist das Lynarviertel in Spandau, dieser Bezirk im Nordwesten Berlins, den Spötter gar nicht mehr als Berlin betiteln wollen. Hier sind Kubilay Sarikaya und Sedat Kirtan, Kinder kurdischer Einwanderer, groß geworden und hier leben sie noch heute. Und hier entstand der Spielfilm „Familiye“. Fiktiv, aber mit Erfahrungen getränkt. Täglich geht es um das eigene Leben, muss man sich gegen Drogen, korrupte Polizisten und Geldeintreiber zur Wehr setzen. Danyal ist nach fünf Jahren aus dem Gefängnis gekommen und muss gleich voll für seine Brüder in den Ring steigen: Der eine steckt bis zum Hals in Schulden und damit in Schwierigkeiten, der andere hat eine schwere Form des Down Syndroms und droht, in ein Heim abgeschoben zu werden. Für Danyal keine Alternative, hat er doch geschworen, nach dem Tod der Eltern für die jüngeren Geschwister zu sorgen.
Zwei Jahre lag der fertige Streifen des Streetworkers Kubilay Sarikaya und des Personenschützers Sedat Kirtan in der Schublade, bis Schauspieler Moritz Bleibtreu dafür sorgte, das er in die Kinos kommt. Ein hartes Sittenbild einer Gegend, in der die meisten von uns wohl nie sein werden. Wem Wiener Ganoven-Schmäh auf knapp 600 Seiten zu anstrengend sind, mag es mit Gangster-Rap in Spielfilmlänge aus Berlin-Spandau versuchen.
Familiye
seit 3. Mai in den Kinos
Titelbild: pexels.com